"Was singt mir, der ich höre,
in meinem Körper das Lied?"
(Roland Barthes)
Sprechen können wir nur durch den Leib, auch wenn wir das meistens vergessen und vielmehr im Denken als im Leib uns dünken. Wir denken, und der Mund spricht. Erst im Versprecher stolpern wir über den Leib und müssen uns fragen lassen, wo das planende Denken gerade eben geblieben ist und woher das neue Wort sich auf die Zunge gelegt hat. Wer hat die Buchstaben umgedreht? Woher kommt plötzlich diese gar nicht mitgedachte Klangfarbe in den Satz?
Es ist, als ob neben der Intentionalität einer angepeilten Mitteilung noch andere Mitmischer im Gehirn säßen, deren Einsatz nicht durch unser Wollen, unser Ich gesteuert wird, sondern durch einen anderen Teil unserer selbst. Aus diesem einem Leib, der etwas bestimmtes ausdrücken wollte, kommt etwas anderes heraus. Der Leib erweist sich in diesem Augenblick als Rebell gegen das Wollen. Der eine sprechende Leib spricht zugleich als Organismus und als Denker und so vereint sich im Sprechen die res extensa mit der res cogitans.
Das Zusammenwirken von Materie und Denken, das sich schon im Sprechen andeutet, verschärft sich, drückt sich noch deutlicher aus im Gesang. Wenn Johann Sebastian Bach in einer Kantate das Verb "lachen" in lange bewegte Phrasen komponiert, die hörbar verwandt sind mit gelachtem Lachen, dann fordert er vom Sänger, gleichsam ins Lachen zu verfallen, ohne dabei wirklich zu lachen. Der Körper muß so locker sein, als lachte er, aber er darf nicht wirklich lachen, sonst verlöre der Sänger die Kontrolle; denn wer real lacht hat losgelassen, er hat die Beherrschung des Körpers aufgegeben.
Singen ist ein Seiltanz zwischen Loslassen und Führen, zwischen dem Primat des Organismus und dem Primat der Person. Will man beispielsweise im Gedächtnis eine bestimmte Situation rekonstruieren, dann führt die Person. Spielt einem aber die Erinnerung irgendwann ein Bild, Sätze oder Klänge zu, ohne daß man nach ihnen gefragt hätte, dann hat der Leib offensichtlich vorübergehend die Führung übernommen. Er hat an seinem Reservoir von Geschichten, Sprachfetzen, von situativ gebundenen Erinnerungen und fixierten Bewegungen eine Schleuse geöffnet, ohne uns zu fragen. Wenn beim eilenden Hinabgleiten über eine Rolltreppe unverhofft eine Melodie sich meldet, ist sie oft die erstaunlich exakte Spiegelung einer vorher nicht bewußt gewesenen Grundstimmung. Läßt sie sich musikalisch nicht einordnen und somit interpretieren, ist meist der dazugehörige Text aufschlußreich: es wird klar, warum gerade diese Melodie "eingespielt" wurde. Die einmalige Situation, die in ihrer Ganzheit dem Denken allein gar nicht zugänglich sein kann, wird vom Organismus auf mehreren Ebenen wahrgenommen und verarbeitet und mit der eigenen Geschichte, dem eigenen Sein in Beziehung gesetzt. Der Organismus vermittelt die momentane Situation mit der Person.
Der Leib spielt dem Summenden auf der Rolltreppe ein Lied zu.
Franzosen und Spanier haben für dieses Erfülltwerden von einer Melodie den herrlichen Ausdruck des Gesungenwerdens. Sie singen nicht selber, sondern werden gesungen oder sind erfüllt von Gesang: je suis enchanté, soy encantado. Bei uns herrschen andere Bilder über die Beziehung von Singendem und Leib vor. Besonders gebräuchlich ist die Formel, der Leib des Sängers sei sein Instrument. Ein gefährliches Bild, weil es dazu verführt, den Leib nur in seiner Funktion als Ausdrucksorgan zu verstehen. Freilich zeigt der Sänger etwas mit seinem Leib oder durch diesen, aber im Bild des Instrumentes ist eindeutig ein Machtgefälle versteckt: Der Sänger spielt den Leib. Eine sehr unbefriedigende Wendung. Vielleicht spielt er mit dem Leib? Auch nicht viel besser, und auch schon abgerückt vom Bild des Instruments, denn Instrumentalisten würden sich wohl nicht sehr freuen über Sätze wie: "Sie spielt virtuos mit dem Klavier", oder "In der Philharmonie spielt heute Herr Gabriel mit der Geige". Mit dem Klavier oder der Geige haben allenfalls Beuys und Nam June Paik gespielt, und mit dem Leib die Künstler der "Body Art". Klavier, Geige und Leib sind dann nicht mehr Instrumente, sondern Objekte, Materie, Extensae.
Wenn nun bereits das gespielte Instrument etwas anderes sein soll als ein bloßes Objekt, bleibt dann überhaupt noch eine Differenz zwischen Klavierspielen und Singen? Kann und muß man sich dann noch gegen das Bild des Instruments wehren? Ist nicht die Einheit zwischen dem Interpreten und seinem Instrument ähnlich beim Pianisten, Violinisten und Sänger? Sagt nicht der Kritiker, der Solist sei mit dem Instrument verwachsen, er atme mit ihm? Er sagt es, oft und gewiß sogar gern, aber er treibt die Bilder zu weit. Der Solist kann allenfalls mit der Melodie, die er auf dem Instrument schafft, atmen, aber nicht mit dem Instrument. Der Sänger aber eben schon, ja er muß sogar den Atem, den ihm sein Leib gibt, weist, andeutet, er muß diesen Atem vernehmen, sich in ihn hineinbegeben. Er muß dieses lebendige Wesen, das er ist, kennenlernen, muß erfahren, wo was in ihm Raum hat. Der Sänger kultiviert Anwesenheit von Gefühlen. Er übt die Präsenz von Lust, Kraft, Heiterkeit, Schmerz, Haß, Zärtlichkeit in seinem Leib. Er läßt sie Platz greifen in seinem Innern ohne ihnen völlig ausgeliefert zu sein. Es geht also nicht allein um Expression, wie man leicht verführt ist zu glauben, sondern besonders auch um ein Anwesendseinlassen.
Stimmbänder des Autors Walter Siegfried, der den
obigen Text 1994 für die Kempfenhausener Notizen
- Organ der Kempfenhausener Gespräche, veranstaltet von der HYPO-BANK -
im Zusammenhang mit einem Gesangs-Vortrag verfasst hat.